Premiere – die erste Berührung von meinem Kind mit Smartphone, Tablet & Co.
Ich erinnere mich genau an das erste Mal. Das erste Mal, dass der Müpfel einen YouTube-Clip sah. Diese 6:19 Minuten, die Alles veränderten.
Der Müpfel war zwei Jahre alt und krank. Es ist für mich nahezu unmöglich, bei kranken Kleinkindern nicht mitzuleiden. Ich glaube, dafür muss man nicht einmal besonders emphatisch veranlagt sein.
Hohes Fieber, auf den Wangen brennen rote Flecken. Die Augen glasig gerötet und mein Kind so matt. Kein Lächeln, kein Spielen – eigentlich überhaupt kein Verhalten, dass an meinen Sohn erinnerte. Er mochte nur im Arm liegen, gab von Zeit zu Zeit ein leises Wimmern von sich. Den hilfesuchenden Blick hatte er auf mich gerichtet. „Was passiert mit mir? Mach es wieder gut!“ schien er zu bitten.
Und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte ihn aufheitern, ablenken – und mir einen Moment Pause verschaffen.
Also ich klappte das Notebook auf – der Müpfel war nicht interessiert.
Ich startete den Browser und öffnete YouTube – der Müpfel war nicht interessiert.
Ich tippte den Namen seiner Lieblingsfigur aus seinen Lieblingskinderbüchern ein - der Müpfel war nicht interessiert.
Tatsächlich hatte es der kleine Drache kürzlich auf die Kinoleinwand geschafft und YouTube hielt ein paar Dutzend kurze Clips bereit. Gleich der erste war ein Trailer, 6:19 Minuten lang.
„Guck mal, Müpfel!“ forderte ich ihn vorsichtig auf. Ganz langsam wendet er sich dem Display zu, schaut lange auf das Standbild. „Koko?!“ wispert er fragend. Der Clip startet und um den Müpfel war es geschehen.
Situation/Komik – Unfreiwillig Star in einem Smartphone-Video
Einige Monate später, der Müpfel ist 2 Jahre und 10 Monat alt.
“Mama, hier ist das Hi Hi, hier ist das Hi Hi!“, ruft der Müpfel. Er schwenkt mein Handy und zeigt mit seinem kleinem Finger auf die Kameralinse.
„Wow“, denke ich, „ dass er das so schnell raus hat.“ Und mache brav „Hi Hi“ in die Kamera.
Und dann verstehe ich. Blitzschnell greife ich das Handy, blau blinkt der Aufnahme-Button im WhatsApp-Chat. Verdammt!
Es ist morgens. Wir sind im Bad. Waschen, Zähne putzen und Pyjamas aus- und Kleidung für den Tag anziehen. ICH habe mich schon ausgezogen, GANZ ausgezogen!
„Wie geht das denn aus?“ rufe ich hektisch und fummle auf dem Touchscreen rum.
Der Müpfel macht „Hi Hi“ und freut sich.
„Wie hast Du das denn gemacht?“ frage ich ihn aufgeregt.
„Mama macht Hi Hi,“ sagt er und nickt gewichtig.
Ich dresche auf dem Display herum, bis das Smartphone endlich ausspuckt, zu wem das „Hi Hi“ unterwegs ist. Und dann ist das Schicksal gnädig, gesendet an „Christian Handy“.
Da bin ich dann doch gespannt auf die Antwort – nach mehr als zehn Jahren Beziehung …
Revue/Passiert – So verhalten wir uns und was das Kind daraus lernt
Smartphone. Tablet, Notebook und der gute alte Fernseher – nicht wegzudenken aus dem Alltag. Ständig gucken und tippen und wischen wir auf den Geräten herum – zum Spaß, zum Arbeiten, zum Fotografieren, zum Navigieren, zum Kommunizieren. Zum Spielen, zum Streamen, zum Musik hören.
Sind wir doch ehrlich zu uns selbst: etwas, das so gegenwärtig zu unserem Leben gehört, können wir vor unseren Kindern doch nicht verbergen. Nicht, ohne uns selbst stringent und absolut zu disziplinieren – und geht das im Alltag denn überhaupt – OHNE?
Für lückenlose Selbstkontrolle und Disziplin fehlt mir die Kraft und ja – auch die Disziplin. Christian und ich nutzen Smartphone, Tablet und Co sparsam, aber auch bei uns gehören sie dazu.
Dass der Müpfel den ersten Kontakt zu visuellem Content auf smarten Geräten mit zwei Jahren hatte, machte ihn fast zu einem Spätzünder. Aber nach den ersten kurzen Kontakten forderte er mehr. Gar nicht lange danach fing er an, ein Smartphone zu stibitzen, wenn es unbeobachtet in Reichweite lag. Er wollte auf den Auslöser der Digitalkamera drücken und die Fotos sofort ansehen. Er liebte es, in die Kamera zu schauen und danach sein Gesicht in der kurzen Aufnahme auf dem Display zu sehen.
Nostalgie – früher war es anders, aber auch smart
Ach, sind wir doch noch mal ehrlich – die Geräte und ihre Nutzung haben sich geändert, die Faszination für neue Medien ist alt.
Ich habe als Kind mit meinem Kassettenrekorder intensiv und stundenlang gespielt, habe Hörspiele und später Musik gehört. Eine leere Kassette war wie Goldstaub, es war so spannend etwas aufzunehmen und dann die eigene Stimme aus dem Rekorder plärren zu hören. Oh, selbst jetzt läuft mir noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Ich saß in meinem Zimmer, die Tür geschlossen, den Rekorder vor mir und konzentrierte mich. Dann drückte ich den Aufnahmeknopf, um die neue Kassette zu besprechen, zu besingen oder mir selber etwas vor zu lesen.
Ich erinnere mich an den Fernseher im Wohnzimmer und wie sehr meine kleine Schwester und ich darauf brannten Sesamstraße, Hallo Spencer oder die Sendung mit der Maus zu schauen.
Als ich spitz gekriegt hatte, dass man so einen Kassettenrekorder auch unterwegs nutzen kann, wollte ich sofort einen Walkman haben!
Heute heißt es nicht „Walk“ sondern „Mobil“ und gilt für so vieles. Via Smartphone zu Hause den Staubsaugerrobotor in einzelne Räume schicken und starten, den Hund allein zu Haus beobachten via WebCam, die auf das Smartphone überträgt und und und.
Ist es so verwunderlich, dass die Faszination unserer Kinder heute die gleiche ist wie in allen Generationen davor?
Klein/Kind – Das Konsumverhalten ändert sich und der Einfluss von innen und außen nimmt zu
Die smarte Nutzung digitaler Geräte geriet für unseren Müpfel schnell zu einer Selbstverständlichkeit. Was der Marketing-Claim intuitive Bedienung wirklich bedeutet, wird offenbar, wenn der kleine Kerl auf dem Touchscreen wischt und tippt. Ohne Lesen zu können, stellt er Helligkeiten und Lautstärke ein, findet die Apps, die er braucht und navigiert sich durch die Funktionen. Sogar das die Farbe der Buttons im Streaming Dienst zeigt, ob der Inhalt gratis ist oder bezahlt werden muss, weiß er.
Lange hat sich der Müpfel damit zufrieden gegeben, dass ihm andere Kinder von Charakteren und Handlungen erzählen: Feuerwehrmann Sam, Paw Patrol, Superwings, Lego Ninjago und so viele andere – ohne dass er selber darauf drängte zu schauen, was sich dahinter verbirgt. Er hatte das große Glück, auch in seiner Unkenntnis an den Spielen teilnehmen zu können und saugte die Geschichten regelrecht auf.
Doch irgendwann genügte der passive Konsum nicht mehr.
Wie so oft in den Eltern-Kind-Beziehungen ist das, was der Müpfel gucken möchte, weil es auch alle anderen schauen, nicht das, was wir für ihn aussuchen würden.
Aber was tun, wenn der Müpfel genau das schauen möchte? Dann besprechen wir den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion und warum er keine Ultra-Mondmagneten zu Weihnachten bekommen kann.
Zum Glück ist der Müpfel Geschmack-dynamisch, und so wechseln sich die Geschichten stets ab.
Mittlerweile gefallen dem Müpfel auch die ewig gleich gestrickten Cartoons, in denen der eine den anderen ärgert – da schüttelt es ihn vor Lachen.
Befremdlich finde ich die Geschichten, in denen vergleichsweise sehr bedrohliche Situationen durch den Einsatz von Fahr- und Werkzeugen im Nu gelöst werden.
Mir missfällt die große Verantwortung, die den Charakteren damit auferlegt wird. Erst recht, wenn die Helden selber noch im Kindesalter stecken. Wenn dann für die Lösung des Problems nicht nachgedacht, geplant und ausgetüftelt wird, sondern nur aus einem unerschöpflichen Pool an Spezialressourcen das passende Tool ausgesucht wird, fällt das Format bei mir durch.
Mittel/Weg – unser Umgang mit smarten Geräten und digitalen Inhalten
Der Müpfel ist jetzt fünf. Er schaut leidenschaftlich gerne auf dem Tablet Serien und YouTube Videos. Er mag alle digitalen Geräte in unserem Haushalt und ist versessen auf Dinge wie Flugdrohnen und Hoverboards.
Und dann passiert so etwas:
„Mama, wo kommen denn die Fotos her?“ fragt mich der Müpfel während einer Autofahrt.
„Wir machen die Fotos mit der Kamera oder mit dem Handy, dann kann man sie danach anschauen, das weisst Du doch.“ antworte ich zerstreut.
„Nee, richtige Fotos!“ beharrt der Müpfel.
Jetzt wird es interessant, denke ich und sage:“Wir können die Fotos vom Handy ausdrucken, man kann sie vom Computer verschicken – dann kommen die Fotos mit der Post oder es gibt Geschäfte, die die Fotos ausdrucken können oder man lässt sie an einem Automaten ausdrucken.“
„Ja, aber das geht auch ganz anders, nämlich viel besser. Es gibt nämlich Kameras, da drückt man drauf und dann kommt da das Foto GLEICH raus. Das muss man schütteln und dann ist das fertig!“ ereifert sich der Müpfel als würde er mir ein Phänom der Quantenphysik erklären.
Mehr Begeisterung legt er auch für die Multifunktionsfahrzeuge aus den Animationsserien nicht an den Tag.
Elternfrage an mich selber: Darf mein Kind fernsehen?
Ich frage mich: hat es uns, den Eltern kleiner Kinder heute geschadet, früher einen Kassettenrekorder zu besitzen, einen Walkman stolz am Hosenbund zu tragen oder fern zu sehen?
Nicht, wenn unsere Eltern uns bei der Hand nahmen und uns den verantwortungsvollen und zeitgemäßen Umgang mit moderenen Unterhaltungsmedien zeigten.
Es gibt unzählige Serien, Filme und Apps, die sich schon an die Kleinsten richten. Nicht alle sind gut, wertvoll und nützlich – aber es sind nicht alle schlecht.
Der Müpfel darf smarte Geräte benutzen, er darf schauen, was seine Kindergartenfreunde schauen und selber entscheiden, ob er das, was er sieht, gut oder schlecht findet.
Er darf an manchen Tagen lange schauen und an manchen darf er es nicht – und tut es manchmal trotzdem.
Wir stellen fest, der Müpfel zieht den Ausweg, auf smarte Geräten zu schauen, statt alleine zu spielen, gerne vor, aber nicht immer.
Häufig findet er Spielanreize in dem, was er sich ansieht: er bastelt Rettungsrucksäcke, wie er sie in PawPatrol gesehen hat, malt Figuren oder wünscht sich Ausmalvorlagen seiner Helden, die es fast ausnahmslos zum kostenlosen Download im Netz zu finden gibt. Mit seinen Freunden rennen und toben sie durch den Garten, spielen Handlungen aus den Geschichten nach und erfinden neue.
Manches Mal erklärte der Müpfel uns schon Dinge und Zusammenhänge aus dem Leben, so dass wir erstaunt fragten “ Wer hat Dir das denn erkärt?“ und bekamen zur Antwort „Die Superwings.“
Das Titelbild entstand mit der freien Version des Fancy Scene Creators, ein tolles Tool!