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Laut, lauter am lautesten – ein Plädoyer für leise Töne und das anders sein

#lautwerden #stimmeerheben #blogfamiliablogparade 

Manchmal wird es laut, manchmal MUSS es laut werden. Dann muss man seine Stimme erheben, muss mit breiter Brust stehen, muss kämpfen für Recht und Gerechtigkeit. Himmelschreiende Ungerechtigkeit, Intoleranz, Grausamkeit, Gewalt – das gehört zu unserer Welt.  

MOMENT!  

Gehört es das wirklich zu unserer Welt? Oder gehört das in die Welt DER ANDEREN?  

Ich halte mich selber für einen weltoffenen und toleranten Menschen, ich verabscheue Ausgrenzung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Grausamkeit und alles Unrecht dieser Welt. Ich versuche mich fair und rücksichtsvoll zu verhalten. Aber wie viel ist meine Weltanschauung eigentlich wert?

Vor nicht allzu langer Zeit wurden die Lokalnachrichten bei uns von der Wohnheimstandortsuche für unbegleitete junge Flüchtlinge dominiert. Und natürlich müssen diese jungen Menschen irgendwo wohnen und verdienen eine faire Chance, auch wenn es sich nachweislich um eine ausnahmslos kriminelle Gruppe junger Menschen handelte. Dachte ich – bis als Standort ein großes Haus in einem Waldstück ins Gespräch kam, das Luftlinie 250 Meter von unserem Haus entfernt liegt. Natürlich müssen diese jungen Menschen irgendwo wohnen – aber doch nicht hier! Ich gehe in diesem Wald alleine spazieren, mit meinem Kleinkind in der Bauchtrage, ich könnte nicht mal weglaufen … das habe ich gedacht. Weil das Leid aus der Welt der anderen plötzlich ganz nah und real in meine zu schwappen drohte. 

Bin ich also doch voll Vorurteile, diskriminiere andere und befürworte Ungerechtigkeit und Grausamkeit? Nein, ich hatte einfach Angst vor dem was ich nicht kenne und darum nicht richtig einschätzen kann. Und wer will schon eine Horde elternloser krimineller Halbstarker als Nachbarn, egal welcher Nationalität, das gilt doch für nordisch blonde blauäugige Jugendliche genauso wie für jugendliche Flüchtlinge aus anderen Ländern.      

Aber darf ich das laut sagen ohne mit Missbilligung gestraft zu werden?  

Eine explosive Mischung – das wo Menschen zusammen kommen brodelt es

Manchmal scheint es, wir leben im Zeitalter der Extreme. Nicht nur der Wetterextreme die seit dem letzten Rekordsommer die Nachrichten dominieren, sondern in einer Welt der extremen Anschauungen und Meinungen. 

Gleichgültigkeit, Angst, Diskriminierung treffen auf Weltoffenheit, Toleranz, und dem Drang nach Gleichstellung.  

Die Strömungen und treibenden Kräfte, die versuchen uns Menschen nach Herkunft und Glaube in ihr beschränktes Raster pressen zu können, sind in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich und erst recht agieren sie nicht im Verborgenen. Wir können uns von ihr distanzieren.  

Das explosive Gemisch das aus unserer Meinung, unserer Haltung und unserem Handeln entsteht als Eruption kräftig gefärbter Blasen aus einem Reganzenkolben
Ein explosives Gemisch – das wo Menschen zusammen kommen brodelt es

Auf der anderen Seite empfinde ich manch tolerante weltoffene Haltung so weit strapaziert, dass sie sich selber ins Gegenteil verkehrt. 

Als Beispiel ein Kinderfest. Für das Fest sollen die Eltern ein Buffet zusammen stellen. Jeder bringt etwas mit. Auf dem Aushang ist deutlich vermerkt, es soll kein Schweinefleisch verarbeitet und keine Gelatine enthalten sein. Damit alle Kinder nach Herzenslust zugreifen können. ALLE Kinder?  

Was ist mit Vegetariern, was ist mit Milch-, Nuss- und allgemeinen Lebensmittelallergikern, wo ist die Bitte Gluten-freie Speisen mitzubringen oder alternativ zu süßen? Und was ist mit den Kindern, die etwas einfach nur nicht mögen?  

Natürlich respektiere ich es, dass Menschen aus religiösen Gründen kein Schwein essen. Aber gleichzeitig gehören Sauerkraut und Kassler nun mal in unsere hiesige Esskultur, dieses und andere Gerichte zu verbannen ist doch auch eine Form der Diskriminierung und Intoleranz. Und sollten (wir) Eltern es nicht schaffen, unseren Kindern Vielfalt zu zeigen? Gehört dazu nicht auch, dass man sich gegenseitig respektiert und wir Altes erhalten und Neues dazu lernen?  

Müssen wir manchmal aufpassen, dass wir uns nicht selber überholen und in Übereifer verfallen die Welt besser zu machen? Die Welt wird nicht besser je lauter wir schreien und Toleranz und Gerechtigkeit entstehen nicht, wenn wir die Welt in schwarz und weiß unterteilen, sondern nur wenn wir zulassen, das sie in allen Farben leuchten darf.   

Wenn ich sage “Hey, ich finde es doof das kein Schweinefleisch auf´s Buffet darf.” dann nicht weil ich Kinder, die kein Schwein essen ausgrenzen und diskriminieren will, sondern weil Datteln im Speckmantel und die Wiener Würstchen vom Schlachter um die Ecke einfach lecker sind. Ich bin sicher, es gibt Platz für beides auf dem Buffet. Und sollte es nicht unsere Aufgabe sein, diese Co-Existenz zu ermöglichen?

Vielleicht mit kleinen Schildchen – Schwein, Milch, Nuss …. damit ALLE Kinder nach Herzenslust zugreifen können? 

Wenn es plötzlich still ist 

Der stillste Ort der Welt ist -9 Dezibel laut und hat eine verstörende Wirkung auf Menschen.  

Menschen orientieren sich nicht nur visuell, sondern auch an Geräuschen. In den USA ist ein Raum entstanden der still ist, vollkommen still.  


Im schalltoten Raum wird man selbst zum Geräusch. 


Steven Orfield, Gründer und Präsident von Orfield Laborstories, USA 

Der Raum ist eine Spezialkonstruktion aus Glasfaser und Stahl, dicken Betonwänden und doppelten Tresortüren. Damit beim Gehen keine Geräusche entstehen gibt der Fußboden nach wie ein Trampolin.

Stille. Wie oft haben wir Stille wirklich erlebt oder gehört?  

Brummt, quietscht oder summt es nicht immer um uns herum? In einem normalen Schlafraum ist es nachts 30 Dezibel laut. Was ist den LAUT, frage ich mich? Offenbar ist laut eine psychoakustische Größe und damit für jeden Menschen ein bisschen anders. Bei unerwünschten Geräuschen ist LAUT=LÄRM, und den mag man nicht.  


Lärm ist das Geräusch DER ANDEREN. 


Kurt Tucholsky 

Aber was, wenn ich ein bestimmtes Geräusch mag? Musik, das Lachen meines Kindes aus voller Seele? Das Fahrgeräusch meines neuen Autos oder Motorrads? Dann gibt es kein ZU LAUT, oder? 

Heute, in unserer lauten digitalen Welt, ist es immer schwieriger Stille zu ertragen. Und manchmal scheint mir, das wir leise Töne nicht mehr hören können oder wollen. Es wird in sozialen Medien gepöbelt und gemotzt, doch geht uns der Mut von Angesicht zu Angesicht offen und ehrlich zu sein langsam verloren?

Die Welt zu verändern ist ein Weg der kleinen Schritte, und er fängt bei uns selber an. Immer mehr neigen wir dazu DAGEGEN zu schreien, aber nichts DAFÜR zu tun. Wir hören nur noch hin, aber nicht mehr zu.

Warum ist es mir so unangenehm, das mein kleiner Sohn einen behinderten Mann im Rollstuhl ansieht und mich in normaler Lautstärke fragt WARUM? Eigentlich ist das doch der Schlüssel, um alle die Menschen und ihre Individualität zu verstehen, und irgendwo auf dem Weg ging mir der natürliche, unbefangene Umgang damit verloren. Jetzt ertappe ich mich dabei, das ich am liebsten „Schhh!“ flüstern möchte.

Weil es mir unangenehm ist dabei ertappt zu werden, dass das – bei diesem Mann ganz offensichtliche – Anders sein eines Menschen uns aufgefallen ist. Als ob wir allein dafür schon der Intoleranz und Ausgrenzung schuldig sind. Und nicht selten passiert genau das, schiefe Blicke treffen uns, es wird gezischelt oder aus digitalen Plattformen offen gepöbelt.

Nicht jedes leise und offene WARUM muss gleich im lauten Gebrüll erstickt werden, manches ist es durchaus wert gehört und durchdacht zu werden auf dem Weg der kleinen Schritte.

(Eine Erklärung zu Schall, Laut und Lärm und den Naturgesetzen.) 

Die Welt ist bunt und wir sind alle gleich und doch verschieden – oder? 

Unsere Welt ist bunt, weil wir nicht alle die gleiche Farbe haben, egal ob Haut, Haar oder Augen. Sie ist bunt, weil wir nicht alle die gleichen Dinge mögen oder die gleichen Dinge können. Und bunt soll sie bleiben. Es lebe die Einzigartigkeit!

Aber warum macht sie uns dann so verflucht viel Angst? 

Bei unserem letzten Besuch auf dem Wochenmarkt nährt sich uns ein Paar, das einen Rollstuhl schob. Darin saß ein Mann, Gesicht und Arme sind heftig verkrampft oder spastisch gelähmt – ja, dieser Mann hat eine Behinderung. Und ja, der Müpfel starrte ihn an. 

Natürlich starrte er ihn an! Wie soll er lernen und begreifen, dass Menschen alle einzigartig sind und wir dennoch alle Menschen sind, wenn er nicht hinsehen darf?  

„Was hat der Mann?“ fragte er mich nicht allzu leise. 

„Sein Gehirn funktioniert anders als deins und meins. Darum bewegt sich sein Körper anders und das findest Du fremd.“ antwortete ich.  

„Warum macht sein Gehirn das?“ wollte er weiter wissen. 

„Das hat er sich nicht ausgesucht, es ist einfach so. “ sagte ich.  

Wirklich anders zu sein, sucht man sich meistens nicht aus, man ist es einfach. Aber das Anderssein DER ANDEREN macht uns so oft Angst. Und dann meiden wir das, was uns Angst macht. Dabei ist ANDERS ganz relativ, und immer abhängig vom Blickwinkel, der Umgebung und dem Kontext. Und ganz plötzlich können auch wir selber zu DEN ANDEREN gehören. 

Die Welt ist bunt, die Menschen sind alle gleich und doch sind wir alle einzigartig!
Wir sind alle gleich, und wir sind alle einzigartig.

Wir sind alle gleich und doch ist jeder einzigartig – was soll denn das heißen? Ist das ein Paradoxon oder ein Oximoron? Und wie soll mein Kind das verstehen, wenn ich es selber nicht verstehe?  

Bei der Recherche stoße ich auf einen Artikel von 1986, Alle sind gleich und jeder ist anders – WER sind wir, der Richard Lewontin zitiert. Und mir gefällt was ich da lese: Was Menschen letztlich unterscheidet, hat fast ausnahmslos eine historische und praktisch nie eine biologische Grundlage. Der einzige wesentliche biologische Unterschied ist der zwischen Mann und Frau, und der beruht, im Großen und Ganzen, auf der verschiedenartigen Ausgestaltung der inneren und äußeren Geschlechtsorgane. Der Rest ist Prägung im sozialen Umfeld.  

Wir sind alle gleich, denn der biologische Unterschied zwischen uns ist so gering, dass er zu vernachlässigen ist. Schwer zu verstehen, weil wir doch alle anders aussehen?  

Wer sich zumindest rudimentär mit Genetik auskennt weiß, dass es nur vier verschiedene Bausteine gibt, aus denen die DNA aufgebaut ist. Und erst die Reihenfolge in denen diese Bausteine aneinandergereiht sind, macht die Information der Gene aus. Ganz grob gesagt. Das menschliche Genom besteht aus 3,27 Milliarden Bausteinen, die meisten Abschnitte liegen brach und enthalten keine Gene.  

Das Genom von Mensch und Schimpanse ist nahezu identisch, wir teilen bis zu 99% der Bausteine und der Reihenfolge, in der die Bausteinen angeordnet sind. 99 % – ist das nicht unglaublich? Und wo sind die Unterschiede am kleinsten? IM GEHIRN! Und wir sprechen hier von Menschen und Schimpansen, nicht von dunkler Haut und heller Haut. 

Zur Vollständigkeit, der größte Unterschied in der Bausteinreihenfolge zwischen Mensch und Schimpanse wurden im Hoden gefunden.

Wie können diese kleinen biologischen Abweichungen diese großen augenscheinlichen Unterschiede hervorbringen? Durch die Art wie Gene genutzt und reguliert werden. Da liegt der entscheidende Unterschied. Und manchmal ist es ein einziges Gen unter ganz vielen, das einen absolut entscheidenden Einfluss hat. Beim Menschen und Schimpansen ist es vielleicht nur EIN Gen, das für die Entwicklung des Gehirn zuständig ist und sich bei dem sich die Reihenfolge der Bausteine unterschiedet und uns zu dem macht was wir sind.  

Und ungefähr so steht es auch in dem Artikel von 1986 der Richard Lewontin zitiert: 

Jeder Mensch ist als Neugeborener mit einer derartigen genetischen Vielfalt ausgestattet, daß er theoretisch in jede auf Erden mögliche Identität schlüpfen kann. Mit anderen Worten: Jeder ist Einstein.  

Wir Menschen sind (biologisch) alle gleich. Aber wir sind auch alle verschiedenen, denn wir lernen weil wir leben.  

Das macht uns einzigartig in unserem Denken und Handeln. Und das ist bunt und gut und muss so bleiben – und dafür müssen wir Laut werden, zuhören und Vielfalt leben! 


Dieser Post ist ein Beitrag zur Blogfamilia Blogparade: Stimme erheben – laut werden


* Richard Lewontin. Menschen – Genetische, kulturelle und soziale Gemeinsamkeiten; Spektrum der Wissenschaft Verlagsges., Heidelberg 1986; 185S 

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